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exex_2004/akademie/presse

Kalbernde Intuition
Der St.Galler Künstler Andrea Giuseppe Corciulo mit neuem Atelier im Lagerhaus

Ein neues, grösseres Atelier, neue Bilder. Im Rahmen der von visarte.ost organisierten Künstlergespräche stellte Andrea Corciulo seinen gegenwärtigen Arbeitsprozess dem Publikum vor.

 

Brigitte Schmid-Gugler

 

Was hat ein am Fruchtwasser ertrunkenes Kälbchen mit einer friedlich weidenden Kälberherde in Afrika zu tun? Wo ergeben sich Parallelen zu einem monumentalen Schwarz-Weiss-Wandbild und den farbig glänzenden Paraffin-Oberflächen der gegenüber aufgehängten Gemälde, die «mit fast überheblicher Klarheit» verschliessen, was das Wandbild dem Betrachter eröffnet, wie Gesprächsleiter Matthias Kuhn sagte. Der Titel könnte ein Hinweis sein: «The nearest faraway place» als das naheste und doch weitentfernteste Gedankenkonstrukt, aufgebaut auf der Intuition sowie auf sich überlagernden Impulsen. Da war das tote Kälbchen, warmen Leibes aus dem Mutterbauch gestossen, der leblose Körper bereits hinübergekippt in einen transitären Zustand. Bei Corciulo ein blaugrüner Zwischenbereich, noch hier und doch schon mehr bei Göttern, geopfertes Kalb, auf seinem nassen Fell die Zeichen einer fernöstlichen Schrift. Die Fruchtwasserlache als Todestrank am bleichen Flussufer eines Weltgewässers, installativ ausgedrückt durch die auf den Fussboden gestreute, das Wandbild abgrenzende, halbkreisförmig angeordnete Mehlschicht. Hinüberschwappend auf andere Kontinente. Die Savanne, eine clichiert schöne Landschaftsansicht von Afrika.

 

Bild und Installation

Neun mal vier Meter nicht nur als expansives Format eines raumfüllenden Gemäldes, sondern auch für die (symbolisch gemeinte) Reichweite eines künstlerischen Arbeitsprozesses, der nicht abzubrechen scheint. Andrea Giuseppe Corciulo knüpft überraschend auftauchende Verbindungsstränge, er baut an Querverweisen, unterlegt und überlagert konkrete Aussagen und Feststellungen mit spielerischem Konjunktivismus. Was wäre, wenn …? - Wenn die Seele des toten Schweizerkalbes als Symbol eines staatlichen Kulturgutes die Heimat verlassen, ins Reich der Sinne fliegen und sich schliesslich unter seinesgleichen in der afrikanischen Steppe mischen würde? Tierwanderung wäre das, im Gegensatz zu Völkerwanderung. Heimat im Gepäck. Was dem Tier die Haut, ist dem Menschen das Bündel. Wenn überhaupt. Was zu schwer ist, versinkt im Meer. Nicht selten mit ihm auch der Leib. Der Menschenleib, der längst aufgehört hat, Kälber zu treiben. Die Treibjagd heisst Menschenjagd.

 

Wohin gehöre ich?

Wo ist Heimat, fragt Corciulo auch in dieser neuen, noch nicht abgeschlossenen Arbeit. Als Secondo in der Schweiz aufgewachsen, sucht er die Entwurzelung und deren Vermächtnisse immer wieder neu zu ergründen; sie waren Themen von in früheren Ausstellungen gezeigten Bilderserien, wie etwa jenen über die Flüchtlingskinder oder die nachgemalten Familienfotos. «To dream the impossible dream» als eines von zahlreichen in das Wandgemälde eingesetzten Textfragmenten verweist auf diese Suche nach Identität. Wie bereits bei früheren Arbeiten benützt Corciulo die aus Hochglanzmagazinen ausgeschnittenen und gesammelten, aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gelösten Sätze als gestalterisches Bildelement, dem mehr oder weniger Beachtung geschenkt werden kann.

 

Neuland betreten

Die gräulichen, einen Baustellencharakter aufweisenden Gipswände des neuen Ateliers benützte Corciulo als Einstieg und Grundlage zum Auftakt eines längerfristigen Projekts. Während eines mehrmonatigen Aufenthaltes in Rom will er afrikanische Strassenverkäufer in Rom ansprechen und sie um ein Lied aus ihrer Heimat bitten. Diese Gesänge wird er später als Tonspur über die Bilder montieren. Drei aus alten Geografiebüchern abgezeichnete, wie nostalgische Filmstills wirkende Bilder übertrug der Künstler mittels eines Koordinatensystems erst auf den Computer, später mit weisser Deckfarbe und schwarzer Pastellkreide auf zwei rechtwinklig zueinander stehende Wände. Die hinsichtlich Format und Technik gegensätzlichen Werke mit der dazwischen liegenden Mehlschicht vermitteln nicht nur den Eindruck einer raumsprengenden Installation, sondern ebenso jenen eines Malers, den diese Sprengung in seinem experimentierfreudigen Ausschöpfen von künstlerischen Ausdrucksformen beflügelt.

 

St.Galler Tagblatt vom Montag, 24. Januar 2005